Daniel Dersch: »Freier Fall«

Buchcover

Abzuschätzen, welche in Eigenregie veröffentlichten deutschsprachigen Bücher die erfolgreichsten waren, ist eine knifflige Angelegenheit. Geht man nach der Zahl der Bewertungen, die die einzelnen Bücher bekommen haben, dürfte der Thriller »Fleisch und Blut« ganz weit oben mitspielen, der bei Amazon ganze 520mal mit Sternen ausgestattet wurde, auch von der Leserschaft der Literaturplattform www.leserkanone.de mehr als 300mal beurteilt wurde und inzwischen ins Englische übersetzt wurde. Autor des Werks war Daniel Dersch, der sich seitdem mit diversen weiteren Romanen zu einer festen Instanz in der deutschen Thriller- und Horror-Landschaft hochgeschrieben hat. Vor wenigen Tagen erschien mit »Freier Fall« sein neuester Streich.

Der 1986 geborene Daniel Dersch ist unter deutschen Selfpublishern gewissermaßen ein Phänomen, denn während die meisten von ihnen tagein, tagaus um ihre Sichtbarkeit in sozialen Netzwerken kämpfen, in Bücher- und Autorengruppen Beiträge en masse schreiben und ihre Follower mit Status-Updates noch und nöcher bei Laune halten, lässt er all diese Bereiche eher ruhig angehen und stattdessen seine Bücher für sich selbst sprechen. Da damit viel mehr Zeit für die eigentliche schriftstellerische Tätigkeit – das Schreiben – übrig bleibt, ist dies die praktischste aller Herangehensweisen, doch bedarf es dafür natürlich einer entsprechend funktioniernden Bibliographie. Dank seiner Erfolgsromane wie dem erwähnten »Fleisch und Blut«, dem zugehörigen Nachfolgebuch oder dem direkt von Amazon Publishing herausgegebenen »Imperium der Angst« hat Dersch natürlich eine deutlich bessere Ausgangsposition als viele andere. »Freier Fall« erschien schließlich am 21. Dezember des vergangenen Jahres als Selbstpublikation, ist rund 460 Seiten lang und kostet als Kindle-Version lediglich 99 Cent. Nutzer von »Kindle Unlimited« können den Roman überdies kostenfrei lesen. Wer Selfpublishern einen Gefallen tun möchte – und die haben es nun wirklich nicht leicht -, der sollte besser letztgenannte Variante nutzen, da das Honorar für den Autor bei einem Buch dieser Länge deutlich höher ist als bei einem Buchkauf.

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In »Freier Fall« erzählt Dersch die Geschichte einer jungen Frau namens Cathrin Leonore Belle, genannt »Cathy«. Keine Durchschnittsperson, sondern die steinreiche Geschäftsführerin eines gewaltigen internatonalen Imperiums, das sie selbst aus dem Boden gestampft hat. Und sie hat nicht nur das Unternehmen aus dem Boden gestampft, sie hat auf ihrem Weg dahin auch andere Menschen in selbigen hineingestampft. Wer lebende Leichen im Keller hat, der muss damit rechnen, dass diese einen grundsätzlichen Rachebedarf mit sich herumschleppen – und so kommt es, dass sich Cathy nach und nach mitten in einem Verwirrspiel wiederfindet, das sie psychologisch bald an ihre Grenzen treiben wird. Dabei wird es nicht nur um ihre materielle Existenz gehen, sondern um ihr ganzes Leben … und um das ihrer Tochter Clara.

Geschickt gelingt es Dersch, Spannung unmittelbar im Prolog – man könnte sogar sagen: bereits im ersten Satz – zu erzeugen. Dabei bedient er sich eines handwerklich einfachen, aber dafür umso wirkungsvollen Mittels: Er spoilert direkt ein paar Ereignisse, die dem Leser bevorstehen werden. Natürlich macht er dies, ohne tatsächlich etwas über Zusammenhänge zu verraten. Aber in kälteres Wasser könnte man kaum geworfen werden, denn man ist keine Minute im Buch, schon weiss man, dass es um Leben und Tod gehen wird, dass Mutter und Tochter in der Hand eines gleichsam wütenden wie routiniert agierenden Mannes sein werden, dass ihnen die Zeit davonlaufen und dass es eine Schusswunde geben wird. Kurzum: "Freier Fall" beginnt nicht mit einem Paukenschlag, sondern mit einem gemeinschaftlichen Tusch des gesamten Orchesters. So simpel das auch ist, man ist gleich von Anfang an hellwach, und man entwickelt mit weit aufgerissenen Augen die ersten Fragen, die man unbedingt beantwortet haben möchte.

Wer nun annimmt, Dersch würde gleich zum Einstieg viel von seinem Pulver verschießen und sich anschließend irgendwo zwischen trägem Trab und gelegentlichem Kantern einfinden, der sieht sich rasch getäuscht. Nicht einmal in der Anfangsphase des Buches, in der Cathy, Clara und die Ausgangsposition beschrieben werden, gewährt der Autor seinen Lesern ein kuscheliges Eingewöhnen, sondern legt richtig los. Das Tempo ist vom Start weg hoch und nimmt – sieht man von ganz kurzen Segmenten zum Luftholen ab – an keiner Stelle spürbar ab. Angesichts der hohen Schlagzahl fürchtet man eine Weile lang, der Autor würde irgendwann ausbrennen, so wie er mit dem Dampfhammer um sich haut, doch nach und nach erkennt man, was hier für ein Profi am Werk war, der sich seiner Sache sicher war und diese schnörkellos und konsequent durchgezogen hat. Daran ändern auch die 460 Seiten nichts: Das Buch ist lang, hat aber keine Längen. Dies gelingt Dersch, indem er klug Wendungen einflechtet und zwischenzeitliche Cliffhanger an genau den richtigen Stellen setzt.

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Rasanter Stil sorgt oftmals dafür, dass an anderen Stellen Verzicht geübt werden muss, doch nicht hier. Inmitten der turbulenten Story versteht es Dersch bravourös, seinen Figuren Leben einzuhauchen und genügend Raum zu lassen, um seinen Akteuren konturstarke Gesichter zu geben. Dabei ist es natürlich insbesondere Cathy selbst, die heraussticht. Hier geht es nicht darum, das facettenlose Bild einer beinharten Geschäftsfrau zu dekonstruieren, hier steht eine Frau mit Geschichte im Mittelpunkt. Eine junge Frau, die einst früh schwanger wurde und allein mit dem Kind zurückgelassen wurde, eine Frau, die schon damals am Scheidepunkt ihrer Existenz gestanden hatte und vom Leben zu der skrupellosen Wirtschafterin geformt wurde, die sie später war. Hegt man angesichts der Buchbeschreibung vielleicht noch den Gedanken, die Wirkung des Buchs könne am mangelnden Sympathiepotenzial einer stacheligen Unternehmerin leiden, so wird dieser Anfangsverdacht im Handstreich ausgeräumt. Es ist nicht nur möglich, mit Cathy mitzubangen, sondern man wird von der gleichen Welle erfasst, die Cathy durch das Buch spült und sie aus ihrem Dasein zu reißen droht. So erlebt man ein geschriebenes Feuerwerk, das einen nicht loslässt, und das glücklicherweise bis zum Ende gut durchdacht erzählt wird und keine Fragen offenlässt.

Was vielleicht angestammte Leser von Daniel Dersch interessieren könnte: In einem Interview erzählte er uns vor einem Jahr, dass seine Geschichten stets durch übernatürliche Komponenten gekennzeichnet seien. Wer auch in diesem Roman darauf wartet, der wird sich am Ende womöglich wundern, denn davon findet sich hier nicht die Spur. Doch gerade dadurch, dass hier weder Vampire, Zeitreisen und andere Motive eine Rolle spielen, die Dersch in der Vergangenheit bemüht hat, sondern es hier um Menschen geht, die im Hier und Jetzt anderen Menschen zusetzen, gewinnt der Roman an Zugkraft und nimmt einen beim Schmökern umso fester in den Klammergriff. Einen Klammergriff, in dem man gerne feststeckt, denn jede Minute, in der man von dem Buch gefangen gehalten wird, lohnt sich.

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