Eine Spurensuche

Leonardo da Vincis Erfindungsgeister

Leonardo da Vincis Erfindungsgeister – Eine Spurensuche

Fällt der Name Leonardo da Vinci, ist das Label “Universalgenie” nicht weit. Seine Produktivität, seine Erfindungen, seine anatomischen Studien weisen weit über seine Zeit hinaus und prägen seitdem unseren Blick auf die Welt. Fasziniert vom Kosmos da Vinci begibt sich der Maler und Bildhauer Marc J. M. van den Broek auf eine höchst vergnügliche und lebhaft vermittelte Zeitreise bis in vorchristliche Gefilde. Und entdeckt dabei: Nicht alles ist da Vinci, wo da Vinci drauf oder drunter steht. Van den Broeks Buch ist Bilderbuch und Kultur-Fibel, Detektivroman und Skurrilitäten-Atlas zugleich. Eine wahre Freude beim Durchblättern, ein Vergnügen beim Lesen.

Zum Sattsehen sind die 332 Abbildungen, die Marc van den Broek für sein Buch recherchiert und gesammelt hat. Es sind Originalskizzen da Vincis, die dessen Erfindungen vorstellen, und es sind Skizzen der gleichen Phänomene, entworfen und zu Papier gebracht von mehr oder weniger Unbekannten in Zeitgenossenschaft da Vincis oder aus weit früherer Zeit. Es geht um Dinge wie Schaufelräder und Springbrunnen, um Helikopter und Perpetuum mobile. Im direkten grafischen Gegenüber verblüffen Ähnlichkeit und gedankliche Nähe. Hier beginnt die Patent-Herrschaft da Vincis zu bröckeln. Sein begnadet-genialer Strich sieht sich mit akribisch-akademisch ausge- arbeiteten Ansichts- und Detailzeichnungen vorindustrieller Ingenieure konfrontiert. Sie können da Vincis leicht hingeworfener Kunstfertigkeit nichts anhaben, kommen nicht heran an seine Emotion, seine Poesie und sein Charisma, relativieren aber dennoch seine innovative Genialität im Austüfteln und Behaupten neuer Maschinen und Mechanismen. Es ist verblüffend, sehenden Auges zu erkennen, dass es Vorläufer gab. Ihre Urheber stammen aus dem arabischen Raum, aus China, aus dem antiken Rom. War sich da Vinci seiner Plagiate bewusst? Gab es einen Wissens- austausch unter Science-Freaks? Auf welchen Wegen waren sie vernetzt?

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Hier liefert van den Broek einen Schnelldurchlauf durch Kulturgeschichte: zeitprägende Handels- wege, expansive und vornehmlich religiös fundierte Territorialansprüche, militärische Macht- obsessionen und vormoderne Wissensvernetzung. Das alles in lebhaften, die Imagination des Lesers anstossenden Bildern. Die historischen Szenerien sind derart plastisch entworfen, dass es schwer fällt, sich ihnen zu entziehen. Geschichte zum Anfassen – wie in einer digitalen 3D-Anima- tion zum Greifen nah: durch Worte; durch den nicht in Zaum zu haltenden Drang, Geschichte als das Gestern des Heute zu begreifen. Damit wird auch Gegenwart veränderbar, der Status quo der Verhältnisse weicht auf. Es ist ein immer wieder faszinierender Blick, den van den Broek da wirft: nicht als dem Intellekt verpflichteter Wissenschaftler, vielmehr als intuitiv sich herantastender Künstler, der um Strichführung, um Perspektive und die Dynamik von hell und dunkel weiß.
Da versteht jemand, den Leser an die Hand zu nehmen und für ihn ein Familienalbum der Menschheit zusammenzustellen und aufzuschlagen.

Van den Broek geht es in seinem Buch nicht um eine diffamierende Abrechnung mit Leonardo da Vinci. Er will ihn nicht vom Sockel stossen. Sein Verhältnis zum Renaissance-Mann ist ebenso liebe- wie respektvoll. Dessen künstlerische Professionalität fasziniert ihn gleich stark wie sein jeden Stillstand vermeidender Lebensentwurf. Bei aller Modernität der Renaissance gegenüber dem Mittelalter ist da Vincis Zeit noch weit entfernt von liberaler Stimmung und Toleranz. Mit seinen anatomischen Studien, dem seinerzeit verbotenen Aufschneiden und Sezieren von Leichen, begab sich Leonardo da Vinci auf verbotenes Terrain. Als Homosexueller führte er ein Doppelleben in bigotter Gesellschaft. Seinen Anfeindungen begegnete er mit Lebensfülle und oberflächlicher Verstellung. Da Vinci war gefragt als Künstler, als Kommunikator, als Entertainer. Für seine Dienstherren entwarf er monumentale Standbilder, zu deren Verwirklichung es niemals kam. Geflissentlich arrangierte er aufwändige Hoffeste, grandiose Illuminations-Schauen, war gefragt als Entertainment-Profi. Einem heutigen Popstar gleich spielte er mit Identitäten, erntete Anerkennung eines Systems, das er im Grunde seines Herzens ablehnte; abgeschwächter: in das er nie so recht zu passen schien. Er studierte die Natur aus Liebe zu ihr, nicht um sie auszubeuten.

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Da Vinci relativierte direkt und unmittelbar einen Künstlerkult, indem er die Mechanismen künstlerischer Auftragsarbeit und sklavischen Gehorsams den Inhabern der Macht gegenüber spielerisch, wenngleich auch mit – nicht nur finanziellen – Opfern negierte. Marc van den Broek setzt hier auf eine weitere Ebene, setzt einen neuen, überraschenden Fokus: Leonardo da Vinci als unser Zeitgenosse, Bruder im Geiste von so krassen Antipoden wie Andy Warhol und Josef Beuys. Waghalsig und provokant, aber belegt entwirft van den Broek ein Bild der Renaissance, das wie automatisch in unsere Gegenwart mündet. Die emanzipatorische Kraft der Renaissance erfährt ihre Schattenseiten als Wegbereiter der industriellen Revolution bis hin zur besinnungs- losen Konsumgesellschaft. Unweigerlich endet van den Broeks Buch in pessimistischen, gänzlich unlarmoyanten Fragen: Wie erobern wir die Freiheit und die Liebe zurück, die im Produktions- und Kaufrausch zu Waren geworden sind, die billig verscherbelt werden? Und woher sind Ant- worten auf die Fragen nach dem Wesen des Menschen und dem Sinn der Schöpfung zu erwarten? Sein Buch endet im schmerzhaften Vermissen eines Visionärs, eines Träumers und Phantasten. Es endet in aufrichtiger Verneigung vor einem großen Künstler.

Übrig bleibt: eine Menge Erkenntnis und ein wunderschönes Bilderbuch. Ein mitreissendes Fest für Intellekt und Sinne.

280 Seiten, 332 Abbildungen, 24 x 30 cm, gebunden, € 39,50
ISBN 978-3-961760-45-9

Nünnerich-Asmus Verlag & Medien GmbH, Mainz
September 2018

Wer die Entwicklung der künstlerischen Arbeit Marc J. M. van den Broeks in den letzten Jahren verfolgt hat, wird die Verdichtung der Gesamtform und gleichzeitig die heiterer werdende Erscheinungsform nicht übersehen können. Die daraus resultierende Spannung mag der eigentliche Gewinn seines Erfindens und Gestaltens sein.

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